von Klaus Gallwitz
Das weiße Klavier
Bevor mein Blick auf einen Stapel gleichgroßer Bilder an der gegenüberliegenden Wand fällt,
bleibt er an dem Instrument hängen. Es steht nicht im Wege, sondern rechterhand ganz kon-
ventionell neben dem Fenster, ebenfalls vor einer Wand. Sein Gehäuse ist aus weißem
Schleiflack. Der Tastendeckel steht offen, Noten sind nicht zu sehen. Aber die Klaviatur ist auf-
fällig verziert. Auf weißen und auf schwarzen Tasten haften ausgeschnittene runde Papierchen
mit den Bezeichnungen der Töne. »Notenlesen werde ich nicht lernen«, sagt die
Klavierspielerin, »ich habe jetzt einen guten Lehrer, aber ich werde es nicht lernen.« Dabei
spannt sie die Hand über das Manual.
Ihre Freunde wissen, wie frei sie immer gespielt hat, zuerst nur Gitarre, dann Klavier. Ich
bekomme keinen Ton zu hören. Bilder und Zeichnungen aus den letzten beiden Jahren darf ich
hier im ausgebauten Dachatelier sehen. Vielleicht liegt es gerade an dieser Vergünstigung, daß
man zunächst auf scheinbare Nebensächlichkeiten achtet. Dabei handelt es sich bei dem
Klavier, wie ich allmählich feststellen kann, um eine Hauptsache, Die wahren »Klavierauszüge«
bekomme ich später zu Gesicht und begreife allmählich: die Bilder sind die Noten, nach denen
gespielt wird. Sie sind die Stücke, die an dieser Stelle entstehen. Die Klavierspielerin greift in
die Tasten, die Malerin zu den Malutensilien, in den Farbtopfoder zur Tusche. Es sind diesel-
ben Hände, derselbe Vorgang. Eine sogenannte Doppelbegabung liegt einfach nicht vor. Die
Partituren werden im Atelier nicht gelesen, sondern hergestellt. Wer Ohren hat, der höre, und
wer Augen hat, der schaue sich hier um, es geht um eine sehr komplexe Sache.
Wir sehen uns die Stücke durch, mit Titel und ohne Titel, auf Leinwand und auf Papier.
Ohne das weiße Klavier, das einige Meter entfernt steht, wäre der Rückschluß auf Musik nicht
unbedingt naheliegend und ist doch »mit Händen zu greifen«. Über die langen Mädchenzöpfe
laufen hurtig die Finger, und aus gleichmäßigen leichten Anschlägen sind die Muster der
weißen Nonnenschleier gefertigt. Hier und dort könnte man darüberschreiben »Scherzo". Aber
die Klavierspielerin liest ja keine Noten, und die Malerin überklebt die Tasten nach eigener
Willkür mit den von ihr bestimmten Zeichen. Jetzt kann es beginnen. Wenden wir uns ihren
Zuhörern zu, setzen wir uns mit offenen Augen unter sie.
Der kleine Pablo auf Vincents Stuhl
Vom Stapel der Bilder kommt der Titel mit dieser doppelt angelegten Assoziation erst ziem-
lich spät zum Vorschein (Abb.S.97), nachdem wir schon viele Bekannte getroffen haben,
Atatürk und wenige andere bedeutende, starke Männer, die jungen Pimpfe von einst und vier
Fassungen von Liz, der amerikanischen Filmschauspielerin Elizabeth Taylor. An den Gesichtern
waren sehr unterschiedliche Vorlagen der Photographie beteiligt, reproduzierte Zeitungs-
drucke, Schnappschüsse, Postkarten, Film- oder Videoaufnahmen und immer wieder alte, lie-
bevolle Porträtphotographie, die nichts dem Zufall und der schnellen Einstellung überließ. Aus
diesen Quellen speisen sich die Bilder, streifen ihre Herkunft ab, nähern sich bestimmten
Vorstellungen und kehren, abhängig vom jeweiligen Arbeitsverlauf und seinen Einflüssen, mit
neuen Eigenschaften zu ihrem »Ursprung« zurück. Das eben noch bekannte Gesicht, die ver-
traute Haltung sind kaum noch wiederzuerkennen, und umgekehrt begegnet uns angesichts
eines bestimmten Ausdrucks das befreiende oder auch beklemmende Gefühl der Ähnlichkeit.
»Kennen Sie die Melodie?« in einem raffinierten Verfahren der Verfremdung wird das ausge-
wählte Genre wie eine vielstimmige Partitur überarbeitet, instrumentiert und in kleiner oder
großer Besetzung vorgetragen.
Der Schritt zum »Kleinen Pablo auf Vincents Stuhl« ist von hier aus nur ein geringer: das
Kinderporträt mausert sich zum doppelten klassischen Künstlerzitat, und auch der bäuerliche
Stuhl hat eine zweifache Funktion, indem der überlieferte leere - der Prototyp - mit rascher
Hand dem kleinen Buben als Sitzgelegenheit untergeschoben wird und noch in seiner rustika-
len Beschaffenheit an den anderen, berühmten erinnert. Eine Montagetechnik macht sich
bemerkbar, die blitzschnell kombiniert, kollagiert und die Schnittechnik des Films mit sicherer
Selbstverständlichkeit und Assoziationskraft einsetzt. Aus dem in unserem Gedächtnis depo-
nierten Fundus der Ikonographie der Moderne entpuppen sich die merkwürdigsten manipu-
lierten Zwitter, durchtränkt von tiefer Melancholie und erleuchtet von somnambuler
Heiterkeit. Den entrückten Stimmungen der Modelle in ihrem antiquierten Bromsilber oder
vergilbten Rasterdruck verleiht die flinke und zugleich doch behutsame ironische Annäherung
ein hohes Maß an subversiven slapstickhaften Wirkungen.
Wie gewissenhaft war noch Dada, wie sorgfältig ging der Surrealismus vor, wenn er die
Realitätsebenen miteinander vertauschte. Ästhetische Mutationen sind heute beinahe überall
Hausmannskost, im Handumdrehen hergestellt. Aber in unserm vorliegenden Fall mischt sich
eine irritierende und faszinierende Störung in die Wahrnehmung des Motivs, das auf eine
besondere Teilnahme des Gegenübers angewiesen zu sein scheint. Woran liegt das? Der kleine,
etwas verloren dreinschauende Junge auf dem geflochtenen Holzstuhl hat seinen längst bekann-
ten Platz im registrierten Inventar der Kunstgeschichte. Dieser Doppelgänger gehört jetzt zum
ständig wachsenden Familienalbum der Klavierspielerin. Sie verwahrt es mit Respekt und
benutzt es ohne Skrupel. Denn zu ihren Vorfahren in der näheren Verwandtschaft zählt sie
selbstverständlich auch van Gogh und Picasso, und um den kleinen Pablo hat sie sich diesmal
besonders gekümmert. Er ist der Jüngste aus der weitläufigen Familie der Künstler, deren
Patenschaften kreuz und quer verteilt und ausgerufen werden.
Ein Familienalbum
Andere Angehörige aus dieser großen Sippe haben ihre spezifischen Eigenschaften und
Physiognomien mehr oder weniger offen gleichfalls vererbt. Bei der Durchsicht des Albums
stoßen wir auf Erinnerungen an die Wiener Gustav Klimt und Egon Schiele, auf den Russen
Michail Wrubel, auf Balthus in Paris. Es sind nicht ihre signifikanten Figuren, viel mehr ihre
Stimmungen, ihre psychischen Dispositionen und ihre physische Motorik, die sie an diese so
unterschiedlichen Maler denken lassen kann. Auch die anonymen Hersteller der »Imagerie
populaire«, der alten Bilderbogen, geben ein Stelldichein und die Cartoonisten von heute.
So greifbar jedoch der Einschlag der erweiterten Kunstfamilie im Bereich der Methoden wie im
Einzelfall ist, so wenig bekommen wir die lebendige Hand zu fassen, die sich gerade noch
anbietet. Es ist wie im Märchen: schon verschwindet die Gestalt, schon ist der Ton verklungen.
Distanz stellt sich ein, und aus weit entfernten Augen betrachten uns die Trägerinnen der
Zöpfe, die Freundinnen der Hündchen, die verschleierten Nonnen und die bandagierte Liz.
Die uns mit so viel Raffinement nahegebrachte Realität zieht sich diskret in ihre Notationen
zurück.
Im Besitze dieser umfangreichen, hochentwickelten Reproduktionsmittel und unter
Beteiligung einer immer wachen, ausgreifenden bildnerischen Erfindungskraft werden auch die
technischen Herstellungsverfahren in ungewohnten Kombinationen erprobt. Malen ist harte
Arbeit, Zeichnen und Aquarellieren dagegen flüssiges, zauberisches Tun, das leicht von der
Hand geht. Entsprechend lustvoll zeigt sich dieses, spröde, verzweifelt und schwer jenes.
Einmal schon haben wir den illusionslosen Zwischenruf der Künstlerin vernommen:
»Verarbeiten kann ich in meiner Malerei nichts.« Gemeint ist der biographische Kontext, der
hier nichts zu suchen hat, wenn die aufgespannten und grundierten Leinwände einmal vor der
Wand und dann flach auf dem Boden liegend bearbeitet werden. Die seit einiger Zeit bevor-
zugten neuen Malpraktiken haben ihre alte Vorgeschichte. Ölfarbe findet keine Verwendung.
Sie trocknet für die angestrebten Arbeitsprozesse zu langsam. Benutzt wird deshalb Acryl, allein
und in Verbindung mit Schellack und Asphaltlack, gesucht wird das unvermittelte Nebenein-
ander von hellen, dünn lasierten Teilen, die sich meistens auf die figürlichen Motive konzen-
trieren, und dunklen Gründen mit einem starken materiellen Farbauftrag. Das hat den
gewünschten Effekt, den wir nicht allein aus der Geschichte der Malerei - bei Hans von Marees
zum Beispiel - kennen, sondern der uns von den Glasplatten und noch in den braunen
Abzügen alter Photographien vertraut ist. Stoffliche Unmittelbarkeit und ironische Dekadenz
gehen in der Wirkung derartiger Techniken eine beabsichtigte unauflösliche Verbindung ein,
und genau jene überträgt sich auf uns bei der Betrachtung des »Kleinen Pablo auf Vincents
Stuhl«.
Zöpfe flechten oder der Schwarze Kontinent
Wir haben uns auf das Klavierspielen eingelassen und sind, flüchtig freilich, einem imagi-
nierten Album nachgegangen. Periphere Phänomene haben sich als inspirierende Zentren
gezeigt, und klare Befunde stellten anschließende Rätselfragen. In unseren Partituren haben wir
es offenbar mit wechselnden Identitäten zu tun, für die man leichter die Spur aufnimmt, wenn
man sich von Nebensächlichkeiten her nähert, aus der Ferne kommt oder dahin zielt.
Bekanntermaßen ist die Metapher ein probates Mittel der bildlichen Übertragung von Sinn-
und Anschauungszusammenhängen. Für die Künstlerin, die, reisend und verweilend, die
Kontinente durchforscht und leidenschaftlich lange Zöpfe flicht, ist eines dieser bewährten
metaphorischen Mittel der Klecks. Kohlschwarz mit Tusche oder Acryl zum Beispiel: punktum.
Er bringt etwas zum Verschwinden, wenn etwas vorher an seiner Stelle war. Er bringt etwas zum
Vorschein, wenn aus dem Bleichgesicht ein Mohrenkopf wird. Das ist der freie selbstgewählte
Zugang zum Schwarzen Kontinent, den die Künstlerin betrat, lange bevor sie ihren Fuß hin-
ein setzte. »Ich würde mir den in der Mitte nehmen«, lautet die mit der Hand ostentativ ins
Photopapier gesetzte Überschrift einer der »Diary Drawings«. Gezählt werden aber vier
Priesterzöglinge von hinten, in schwarzen Soutanen und schwarzen Kappen, auf eine römische
Balustrade zustrebend, indessen sich ein bewegter endlos gewundener Zopf oder Shawl um die
dünnen Hälse schlingt: eine Synkope über vier Takte. »Overpaintings« heißt eine Reihe von in
New York entstandenen Übermalungen in Schwarz. Verwendet wurden dafür selbstgemachte
Photographien nach Tierdioramen im Museum of National History. So entsteht unter Assistenz
des Vogel Strauß sowie verschiedener schwarzer Kleckse, Zöpfe und Kreise in sechs Bildern die
Geschichte von einer schwarzen Leda und dem afrikanischen Schwan.
»Folge den Vögeln, nicht nur mit den Augen«, weit im Norden, an Norwegens Strand, ist
im Sommer 1992 ein Elefant aus Kenia gelandet. Ein halbes Jahr hat er, im Kopf seiner die
Kontinente wieder wechselnden Erfinderin inkubiert, für die Reise benötigt. Schließlich brach
er unterhalb eines Leuchtturms an der Küste aus (Abb.S.2). Der Einwanderer, mit den gigan-
tischen Abmessungen von annähernd 20 auf 30 Meter, hatte sich unter skandinavischem Licht
aus dem heimatlichen Grau vollständig versilbert. Eine Aufnahme vom hohen Leuchtturm
zeigt ihn aus großem Abstand. Klein und rot am Rüssel, auch ein »Klecks", fast unsichtbar, die
Künstlerin, der wir folgenden Kommentar verdanken: »Aus Naturschutzgründen durften die
Steine für meinen Elefanten nicht bemalt werden, deshalb verpackte ich die ca. 3000 Steine in
Alufolie.« Konzeptuelle Konterbande aus dem Schwarzen Kontinent.
Noch einmal zurück zu den Zöpfen, zurück in die Kindertage, zur Jungfrau Marlen. Was
immer sie am Zopf heranzieht: die Lasten wachsen mit den Haaren. »Photographie mit
Selbstauslöser« ist ein 1993 nachgestelltes Erinnerungsbild (Abb. S.7): Die Künstlerin als
Mädchen, das an langen Zöpfen einen Kinderwagen traumverloren über den sandigen Weg
eines trostlos verfallenen Dorfes zieht. Sie wird sich von niemand aufhalten lassen. Niemand
wird ihr auch entgegen kommen. Am überlangen Seil der beiden Zöpfe folgt ihr holpernd die
Zukunft im Rücken nach, ein Nachlass zu Lebenszeit. Auch das Licht, das von rechts einfällt,
hat sie hinter sich gelassen. Nur ihr Schritt läßt nicht daran zweifeln, daß sie weiß, wohin sie
will, auch wenn wir ihren Weg nicht kennen. Ein Volkslied, eine »alte Weise«? Das Selbstbildnis
einer Künstlerin ist kaum unauffälliger und prägnanter zugleich seit den Tagen von Paula
Becker-Modersohn aufgefaßt worden.
»Hoc est corpus meus«
Ein einfacher lateinischer Satz, demonstrativ und zugleich distanziert. Ein liturgischer Satz,
der aus der Feier des Abendmahls, das Jesus mit seinen Jüngern hielt, übernommen wurde. Und
außerdem der Titel eines 1997 gemalten Bildes (Abb.S.71). Der Satz enthält eine Aussage, die
sich wie ein Leitmotiv einmal offen, einmal verdeckt durch viele Arbeiten der Künstlerin zieht.
Sie ist sich dessen seit langem bewußt. Die lateinische Sprache klingt in diesem
Zusammenhang rituell und feierlich. Eine umfangreiche Serie von Tuscharbeiten auf verschie-
den farbigen Papieren aus dem Jahr 1996 trägt den Titel »Rituale«. Darauf sehen wir in tänze-
rischer kalligraphischer Darstellung eine besondere Art von grotesken Inkunabeln:
Mädchenköpfe, Mädchenzöpfe. Aber nicht diese schwungvolle etudenhafte Meisterschaft ist
gemeint, sondern die allmähliche Entdeckung eines Befundes, in dem ein gewisses Erstaunen
mitklingt. Bin ich das? Die zögernde Frage wird immer wieder neu gestellt, leise und inständig,
kaum hörbar, aber dann wieder herausfordernd und mit Nachdruck. Im »Selbstporträt mit
Jacky« (Abb.S. 13) kommt diese Haltung an die Oberfläche, gebrochen durch die sublime
Selbstironie des magisch fixierten Blickes. Der Ausgangspunkt einer trivialen Vorlage bleibt
stets im Bereich des Naheliegenden, sodaß die Ähnlichkeit fast immer nur eine behauptete oder
gemutmaßte ist, die hinter dem vorgekehrten Idolcharakter des Selbstbildnisses bescheiden
zurücktritt. »Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen«, die Zeile ist in einem Gedicht von
Paul Boldt zu lesen, das 1913 in Berlin geschrieben wurde. Cornelia Schleime verwendet seit
geraumer Zeit in derselben Stadt mancherlei Kleider und Verkleidungen, um sie ihrem Ich
anzulegen. Dazu auch Spiegel, große und kleine, auf die verschiedenste Weise geschliffen und
geformt. Brechungen aller Art werden von der Künstlerin hervorgerufen, bestaunt, reflektiert
und eingefangen. Die Suchmeldung des Subjekts ist jedoch eine ähnliche oder sogar dieselbe
wie in der Gedichtzeile. Das Malen von Körpern, Gesichtern, Händen und Füßen fördert aus
sich heraus Ähnlichkeit, übrigens auch ohne jedes Hilfsmittel, ganz aus dem Kopf, und natür-
lich mit dem Kopf. Das ist der rationale Ansatz dieser Kunst, und er wird in allen erprobten
Techniken mit entschiedener Beharrlichkeit durchgehalten. Steht doch am Ende wie am
Anfang dieselbe Überzeugung: Dies ist mein Körper.
Der Titel »Hoc est corpus meus« gehört zu dem Kopf einer Nonne. Im gleichen Bildformat
erscheint er in mehreren Versionen, einmal mit Schmetterling, einmal mit schwarzer Tulpe als
Attributen. Das Thema brachte die Künstlerin aus dem Norden Brasiliens mit, weit entfernt
von Folklore. Nonnen aus allen Ländern sieht man heute auf jedem Flughafen. Der weiße
durchsichtige Schleier, der die Bilder auszeichnet, gehört hier allerdings nicht zur Reiseklei-
dung. Er rahmt mit seinen großen Mustern, die hier einer östlichen Heraldik, dort den Pattern
eines Hotels in Salvador/Bahia entnommen sind, die jungen Allerweltsgesichter. Es sind die
lebendigen Nachfahren der schönen Toten, die uns in den auf Holz gemalten Porträts aus dem
ptolemäischen Fayum überliefert wurden, entrückte und gegenwärtige Sinnlichkeit. Der Reiz
von dem vielen Weiß über dem bräunlichen Inkarnat der Gesichtshaut und die transparenten
Gewebe geben ihnen das Aussehen von Votivbildern, hintergründig und oberflächlich zugleich.
Hat die Künstlerin ein Gelübde getan? Hat sie, ein Kind der Welt, den Schleier genommen,
um dem Geheimnis der Verwandlung nahe zu sein oder es im Nonnenschleier zu verhüllen:
Hoc est corpus meus? Die vielen Metamorphosen, die das Gedächtnis durcheilt, denen das
Potential an Erinnerung und zufälligem Photomaterial ausgeliefert wird, führen zu einer un-
ablässigen, manchmal ängstlichen, meistens forschend eindringlichen Befragung des eigenen
Ich, der Erkundung des einem anvertrauten Körpers, der immer vom Verlust bedrohten Ähn-
lichkeit mit sich selbst. An dem Prozess, die Wahrheit herauszufinden, sind alle Mittel, die zur
Herstellung von Bildern gehören, beteiligt. Nur hier werden die vorgetragenen Argumente
nachprüfbar. Die weißen Nonnen haben an diesem Verfahren der schrittweisen Annäherung an
die verborgene Ähnlichkeit einen hervorragenden Anteil.
»Photographie raubt die Seele«, sagt die Künstlerin. »Durch Malerei wird sie ins Leben
zurückgeführt. Die Pose bleibt bestehen. Schönheit ist bedrohlich. Aber die Malerei muß schön
sein.« Wir haben es mit der Verfechterin einer kompromißlosen Ästhetik zu tun. Nichts aus
dem überquellenden Arsenal der modernen Medienpraxis kann sie aus der Fassung und weg
vom als richtig erkannten Wege bringen. Die Beseelung ist ihre Sache, und deshalb muß sie
immer wieder die gespeicherten Bilder hinter sich lassen, indem sie diese noch in der
Verarbeitung beschädigt oder zerstört. Das geht bis in die Prozeduren des Malverfahrens, wenn
der flüssige Schellack beim Auftragen die schon getrocknete Acrylfarbe angreift und der ver-
wendete Asphaltlack die Maloberfläche in fleckenhaften Inseln von der Wirkung eines
Ausschlags überzieht. Die planvolle Minderung des Makellosen resultiert nicht aus dem
Vergnügen an der Morbidität. Es wird auch nicht mit dem Effekt des Häßlichen operiert. Wohl
aber besteht ein sicheres Gefühl für die Angreifbarkeit des Schönen. Der Verlebendigung des
Individuums steht, jedenfalls in zahlreichen gemalten Porträts, seine moribunde Kondition zur
Seite, und dies unter keinem anderen Aspekt als der Entdeckung: Dies ist mein Leib.
Widmung
Die modernen jungen Nonnen haben mich an das alte wunderbare Porträt einer Französin
erinnert. Mit zwölf Jahren wurde Angélique Arnauld (1591-1661) als Äbtissin an die Spitze des
Klosters von Port-Royal-des-Champs in der Nähe von Paris gestellt. Sie war gerade achtzehn,
als sie das Kloster reformierte. Es wurde der Hauptsitz der Jansenisten, die sich gegen die
Jesuiten und ihre Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes wendeten, und zu einem Brenn-
punkt in Frankreichs neuerer Geistes- und Religionsgeschichte. Philippe de Champaigne hat
die 63 jährige Nonne gemalt, vor einer ruhigen dunklen Wand mit einem fast quadratisch
geschnittenen Ausblick auf die ländliche Umgebung des Klosters. Eine lapidare Geometrie der
Flächen, dezidierte Hauptfarben und die große Ordnung der Komposition reflektieren bis in
die Zeichnung der Gewandfalten hinein die ebenso nüchterne wie intensive Anwesenheit der
Dargestellten, die sich auf »Vincents Stuhl« niedergelassen hat. Was das bedeutet? Darauf hat
unsere Künstlerin eine Antwort, die sie uns mit Sicherheit geben wird, wenn sie will und wir
nicht darauf warten. Ich dachte mir, daß ich ihr die Erinnerung an das Bild der Mère Angelique
Arnaud zu ihrem Nachlass auf Lebenszeit schuldig wäre.